
ELEISON-KOMMENTARE DCCXXX (10. Juli 2021): WAHRHEIT und AUTORITÄT – III
Die Diagnose, wonach seit Vatikan II ein fortwährender Kampf zwischen der Treue zur katholischen Wahrheit und der Treue gegenüber der katholischen Autorität tobt (EK 726, 12. Juni), wirft sehr viel Licht auf die Krise, welche die Kirche seit Vatikan II heimsucht (EK 728, 26. Juni), doch ist fähig, noch mehr Licht zu geben, um die Frage zu klären, wie weit die Verteidiger des wahren katholischen Glaubens heute einer Struktur bedürfen. Jene, die man als «normale» Katholiken bezichnen kann, werden antworten, dass die Autorität so ein Wesensteil der Kirche ist, dass ohne sie die Verteidiger der Wahrheit nichts zustande werden bringen können. Doch jene, die man als «abnormale Katholiken» bezeichnen könnte, werden mit diesen «Kommentaren» antworten, da der Schutz der katholischen Wahrheit der Grund für die Existenz der katholischen Autorität sei (EK 726), bedürften jene, die vollumfänglich im Besitz der katholischen Wahrheit seien, in Ausnahmesituationen eigentlich keiner Struktur, die sie zusammenhalte. Denn da dem Sprichwort zufolge «Die Wahrheit mächtig ist und siegen wird», werde sie auch einigend wirken.
Seit Unser Herr Seine Kirche begründete, musste diese ihren Weg normalerweise durch feindliches Gebiet bahnen – durch eine Welt, deren Fürst der Teufel ist (Johannes XIV, 30); dies ist durch die Erbsünde bedingt. In dieser Welt hat ihn Jesus den Teufel durch das Kreuz ausgestossen (Johannes XII, 31), doch liess Er den Menschen mit den Wunden der Erbsünde zurück, so dass dieser die ganze Autorität der Kirche brauchte, um die katholische Wahrheit zu schützen (EK 726). Aber nach 19 Jahrhunderten sah Papst Leo eine ihm von Gott offenbarte Vision, der zufolge dem Satan einmal mehr die volle Freiheit gewährt wurde, die Kirche anzugreifen, so dass es Satan unter den neuen, abnormalen Umständen ein Jahrhundert später tatsächlich gelang, selbst die Autorität der Kirche zu überwältigen. Was hatte Gott nun für Vorkehrungen vorgesehen, um Seine Wahrheit vor der Anarchie in Seiner Kirche zu schützen?
Die Gefahr, dass die Kirche nicht überleben würde, bestand von Anfang an niemals (Matthäus XXVIII, 20). Was würde Gott tun, um Seine Kirche zu beschirmen? Er hatte es bewusst zugelassen, dass ihre normale Autorität zerstört wurde. Zu welchen Schritten würde Er in dieser abnormalen Situation nun greifen?
Sicherlich können wir alle sehen, was um uns herum geschieht. Seit 1965, als das Zweite Vatikanische Konzil offiziell beendet wurde, hatten die Katholiken mehr als ein halbes Jahrhundert, um sich an eine Autorität zu gewöhnen, die jener katholischen Wahrheit, deren Schutz ihr Existenzweck und deren Verbreitung ihre Pflicht ist, zusehends entleert wurde. Haben die Katholiken die Kirche dementsprechend verlassen? Gewiss, viele haben sich falschen Religionen zugewandt oder der Religion überhaupt den Rücken gekehrt, aber durchaus nicht alle. Die Schafe, die dem Glauben treu geblieben sind, sind in alle Richtungen zerstreut, weil ihr Hirte, der Papst, mit verhängnisvoller Blindheit geschlagen ist, doch gibt es echte gläubige in vielen Richtungen: in der offiziellen Kirche noch, in dem, was die Ecclesia Dei-Gruppen waren, in der Priesterbruderschaft St. Pius X., in der Petrusbruderschaft, im «Widerstand», unter den Sedisvakantisten und so weiter und so fort.
Sie neigen wohl dazu, sich gegenseitig zu exkommunizieren, doch das ist hier nicht der springende Punkt. Was wirklich zählt, ist die katholische Wahrheit, an der sie alle mehr oder weniger festhalten, solange sie sie nicht fahren lassen. Zu jener Wahrheit gehört freilich auch, dass sie sich alle wieder der katholischen Autorität unterstellen müssen, sobald sich diese ihrerseits wieder der katholischen Wahrheit unterwirft, aber nicht früher.
Jeder kann voraussehen, dass es nicht allen Schafen, die gegenwärtig zerstreut sind, gleichermassen leichtfallen wird, sich der Autorität zu unterstellen, doch wird es für sie alle gleichermassen notwendig sein, sofern sie Katholiken werden bleiben wollen.
Wer dürfte, bis es so weit ist, behaupten, Gott habe Seine Schafe verlassen? Die goldene Regel lautet, dass Er niemals eine Seele verlässt, die Ihn nicht zuerst verlassen hat. Tatsächlich können viele von uns von den bemerkenswerten Mitteln berichten, mit denen Er uns individuell befähigt hat, am Glauben festzuhalten oder gar zu ihm zurückzukehren, und diese Mittel umschliessen auch die Krise der Kirche selbst. Ohne den Wahnsinn der Modernisten hätte man bis zu seinem Tode im Glauben schlafwandeln können. Nun mag man es schwierig finden, eine Gruppe ausfindig zu machen, der man sich anschliessen kann, um vom Glauben zu leben, doch wenn man sucht und beharrlich weitersucht, bis man findet, was man braucht, wird Gott einem dabei ganz gewiss keine Steine in den Weg legen. Zum Beispiel, rund vierzig Jahre lang war die Priesterbruderschaft St. Pius X. eine wahre Oase in der Wüste, und auch heute finden immer noch viele Seelen dort Zuflucht. Erzbischof Viganò beschwört sie jetzt, immer weiter die Wahrheit Vorrang vor der auf Abwege geratenen Autorität einzuräumen, sowie den Glauben über den «Gehorsam» zu stellen.
Deshalb hatten die theologischen Lehrbücher von gestern (Stränge katholischer Perlen) recht, wenn sie gestern Dinge verkündigten wie «Keine Häresie kann vom Papst kommen, weil die Lage der Kirche dann hoffnungslos wäre». Diese Lage ist heute, menschlich gesehen, in der Tat hoffnungslos, aber die Lehrbücher müssten das «menschlich gesehen» hinzufügen, denn sie hatten damals vergessen, dass, was für Menschen tatsächlich hoffnungslos sein mag, für Gott ein wahres Kinderspiel sein kann.
Kyrie eleison
Gibt Gott der Kirche die Freiheit, die Wahrheit zu verraten,
Kann ihre ganze Struktur bald aus den Fugen geraten.